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Unter dieser Nummer finden alle ein offenes Ohr

Text

Anne-Sophie Keller

Erschienen

01.07.2022

Redaktorin Anne-Sophie Keller im Gespräch. Sie trägt ein Headeset, auf dem Tisch steht ein Strauss Pfingstrosen

Die Hotline «malreden» gibt älteren Menschen die Möglichkeit, sich mit jemandem auszutauschen. Unsere Redaktorin sass einen Nachmittag lang am Hörer.

«Ich bin den ganzen Tag alleine in der Wohnung», erzählt die Fremde am anderen Ende der Leitung. «Früher habe ich Handarbeit gemacht, aber nun plagen mich Schmerzen im Arm. Und wer braucht heute noch Gehäkeltes?» Ich muss leer schlucken. Seit 25 Jahren sei sie verwitwet. Nun lebt sie alleine in der Stadt; um sie herum nur Fremde.

Die vier Frauen, mit denen ich an diesem Nachmittag telefoniere, kennen mich nicht und haben noch nie vorher mit mir gesprochen. Und doch erzählen sie mir ihre intimsten Geschichten. Von belastenden Beziehungen und schweren Krankheiten. Vom Gefühl, wenn man im Leben nicht mehr gebraucht wird – dann, wenn Karrieren beendet, Partner gestorben, Kinder ausgezogen und Freundschaften versandet sind.

Es ist ein schöner Sommernachmittag in Bern und ich höre diese Geschichten, weil ich eine Schicht des Telefonangebots «malreden» übernommen habe. Dort können ältere Menschen anonym anrufen, wenn sie ein offenes Ohr brauchen. Lanciert wurde das Projekt im April 2021 von Eve Bino (47) und Sylviane Darbellay (53).

«Während meiner Arbeit als Physiotherapeutin habe ich immer wieder gemerkt, dass einige meine Patientinnen und Patienten kaum Menschen in ihrem Umfeld haben, mit denen sie regelmässig reden können», erzählt Bino. Nachdem sie einen Artikel über das Angebot Silbernetz in Deutschland gelesen hatte, wusste sie: Das braucht es in der Schweiz auch.

Eve Bino und Sylviane Darbellay sitzen auf einem Sofa, auf dem Fensterbrett hinter ihnen stehen mehrere Pflanzen.

Eve Bino und Sylviane Darbellay, Gründerinnen von «malreden»

Während meiner Arbeit als Physiotherapeutin habe ich immer wieder gemerkt, dass einige meine Patientinnen und Patienten kaum Menschen in ihrem Umfeld haben, mit denen sie regelmässig reden können.

Eve Bino

Wie reagiere ich, wenn jemand weint?

Die zweite Anruferin steht zwischen Scheidung und Chemotherapie – und ich bin überfordert. Gerne würde ich helfen. Zum Glück erhalte ich vor meiner Schicht einen ausführlichen Leitfaden. Wie reagiere ich, wenn jemand weint? Was mache ich, wenn Wut dominiert? Ich weiss: Helfen kann ich nicht wirklich. Aber ich kann da sein. Laut Studien fühlt sich ein Drittel der Schweizer Bevölkerung oft einsam. Mit zunehmendem Alter verstärkt sich dieses Gefühl, während die sozialen Kontakte zeitgleich abnehmen. «Ich habe meine Freundschaften nicht gepflegt, viel gearbeitet und mich auf meinen Ex-Mann konzentriert. Das rächt sich jetzt», resümiert eine Anruferin ernüchtert. Die Geschichte ist stellvertretend für so viele.

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Menschen, die kein soziales Umfeld pflegen oder erhalten konnten, werden oft dafür verurteilt. Dies führt zu einer noch grösseren Isolation und damit zu noch mehr Einsamkeit.

Sylviane Darbellay

Aktuell erhält das Team von «malreden» rund 300 Anrufe pro Monat. Sylviane Darbellay schätzt den Frauenanteil der Anrufenden auf 90 Prozent; die meisten davon im Pensionsalter: «Menschen, die kein soziales Umfeld pflegen oder erhalten konnten, werden oft dafür verurteilt. Dies führt zu einer noch grösseren Isolation und damit zu noch mehr Einsamkeit», sagt die Betriebsökonomin. Diesen Teufelskreis alleine zu durchbrechen, braucht enorm viel Energie. Hier kommen die aktuell 33 Freiwilligen von «malreden» ins Spiel. Von 9 bis 20 Uhr übernehmen sie abwechselnd ihre Schichten. Es sind Studierende, Pensionierte, Berufstätige – sogar Banker haben sich bereits gemeldet. Getragen wird die Hotline durch Beiträge von Einzelpersonen, Organisationen, der öffentlichen Hand und Unterstützern wie dem Migros Kulturprozent.

Die immergleichen Geschichten

In vielen Fällen haben die Anrufenden durchaus noch ein soziales Umfeld. Aber dieses hat nicht immer die Geduld, die immergleichen Geschichten zu hören. «Wir sind für die Alltagsgespräche zuständig und sehen uns als Ergänzungsangebot zum 143 der Dargebotenen Hand», sagt Bino. «Wir beraten nicht und können keine Probleme lösen. Aber wir nehmen Anteil, wir entlasten im Moment, wir ermutigen und geben Wertschätzung. So können wir die Selbstwirksamkeit fördern.»

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Wir beraten nicht und können keine Probleme lösen. Aber wir nehmen Anteil, wir entlasten im Moment, wir ermutigen und geben Wertschätzung. So können wir die Selbstwirksamkeit fördern.

Eve Bino

Der Nachmittag geht nicht spurlos an mir vorbei. Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mich in den letzten zwei Pandemiejahren nicht auch manchmal einsam gefühlt hätte. Aber genau diese Verletzlichkeit ist das, was verbindet. Am Ende der Gespräche wirken meine Anruferinnen entspannter. Mit einer lache ich sogar; eine andere konnte Inspiration für ein Projekt finden. Es gibt Menschen, die ihre Kochrezepte verraten; andere erzählen von ihrer Familie. Und weil die Nummer ähnlich ist wie die der Schadensmeldung einer grossen Versicherung, kommt es auch immer wieder zu amüsanten Wortwechseln mit Leuten, die falsch verbunden sind.

Eine Anruferin sagt mir, dass es ihr heute gut gehe, weil das Wetter so schön sei. Eine andere bedankt sich fürs Zuhören. Für die Sicherheit, dass man doch nicht ganz alleine ist auf dieser Welt. Eine Person ruft jeweils an, um Gutenacht zu sagen.
 

«malreden» ist täglich von 9 bis 20 Uhr bedient unter der Gratisnummer 0800 890 890. Mehr Infos: malreden.ch

Fotos: © Yoshiko Kusano

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