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«Wir wollen den Eltern signalisieren: Ihr seid nicht allein.»

Text

Monica Müller

Erschienen

08.10.2021

Portrait Georg Staubli

Georg Staubli, Chefarzt am Kinderspital Zürich, rät überforderten Eltern, Hilfe zu suchen.

Georg Staubli (55) leitet die Notfallstation und die Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich. Er möchte Mütter und Väter dabei unterstützen, Hilfe zu suchen, bevor ihnen die Situation über den Kopf wächst. Er engagiert sich in der Kampagne #refeel, die unter anderem vom Kinderspital Zürich und dem Marie Meierhofer Institut für das Kind in Zusammenarbeit mit Pro Juventute umgesetzt wird. Das Migros-Kulturprozent unterstützt sie.

Herr Staubli, Sie erleben im Kinderspital immer wieder Fälle von Kindsmissbrauch. Wie kann es dazu kommen, dass Eltern die Kontrolle derart verlieren?

Es ist wichtig zu präzisieren von welcher Art einer Misshandlung wir reden. Wir unterscheiden fünf Formen: Sexueller Missbrauch, Münchhausen Stellvertreter-Syndrom, psychische Misshandlung, körperliche Misshandlung, Vernachlässigung. Das Münchhausen Stellvertreter-Syndrom ist eine ganz spezielle und seltene Form der Misshandlung, hier machen die Eltern (gemäss Literatur meist die Mütter) die Kinder absichtlich krank, weil sie selbst psychisch krank sind. Beim sexuellen Missbrauch geschieht der Übergriff an Kindern nicht aus der Überforderung heraus, sondern meist sehr gezielt. Auf diese beiden Formen werde ich im Weiteren nicht eingehen. 

Wie kommt es zu psychischer oder körperlicher Misshandlung oder Vernachlässigung?

Die meisten Eltern handeln nicht aus bösem Willen. Sie sind überfordert, entweder von der Entwicklung ihres Kindes oder weil dessen Verhalten nicht ihren Erwartungen entspricht. Vielleicht überfordert sie auch ihr Alltag und sie stehen unter Stress. Ihre eigenen Bedürfnisse kollidieren mit denjenigen ihres Kindes, was zu Konflikten führt. In dieser angespannten Situation kann es dazu kommen, dass Eltern ihr Kind beschimpfen, es psychisch misshandeln oder allenfalls körperliche Gewalt ausüben.

Es kann in allen Familien vorkommen, dass sich Eltern in einer Konfliktsituation derart überfordert fühlen und eine Grenze überschreiten.

Georg Staubli Leiter der Notfallstation und der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich

Welchen Eltern passiert das?

Missbrauch können Kinder aus allen Schichten erleben. Viele Eltern erzählen mir, dass sie auch schon an dem Punkt waren, dass sie ihr Verhalten im Nachhinein bereut haben. Dass sie beispielsweise in der Hitze des Gefechts ihrem Kind eine Ohrfeige verpasst haben. Es kann in allen Familien vorkommen, dass sich Eltern in einer Konfliktsituation derart überfordert fühlen und eine Grenze überschreiten. Studien zeigen, dass es dabei entscheidend ist, was Eltern in ihrer Kindheit selbst erlebt haben. Wurden sie mit Schlägen bestraft oder erzogen, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass auch sie ihre Kinder schlagen. Studien belegen auch, dass sozial schwächere Eltern eher Gewalt ausüben, psychische Misshandlung und sexuelle Gewalt hingegen in der ganzen Gesellschaft vorkommen. Vernachlässigung dagegen findet eher in gut situierten Familien statt. Da denken Eltern bisweilen, sie könnten ihr Kind mit einem neuen Spielzeug oder einem Laptop zufrieden stellen, obwohl es emotionale Nähe sucht.

Was die meisten Übergriffe gemeinsam haben ist ein Unvermögen, mit einer Situation klarzukommen. Was bräuchte es, um solche Momente zu verhindern?

Eltern müssen offen über die eigene Überforderung sprechen können, ohne sich dabei schlecht zu fühlen und sich eingestehen können: hier stosse ich an meine Grenzen. Sie müssen auch wissen, wohin sie sich wenden können um Unterstützung zu erhalten. Deshalb möchten wir mit der IG Kinderschutz Transparenz schaffen und thematisieren, dass es schwierig ist, Kinder grosszuziehen, ohne dabei in Konflikte zu geraten. Es ist fast unmöglich, dabei nie eine Grenze zu überschreiten.

Die jährliche Statistik von Kindsmisshandlungen zeigt, dass es immer mehr Fälle gibt. Worauf führen Sie das zurück?

Die Zahlen in der ganzen Schweiz sind seit Jahren langsam am Steigen. Frischgebackene Eltern sind heute weniger in familiäre Strukturen eingebunden, in denen auch Grosseltern sich engagieren. Das kann positive oder negative Einflüsse haben: Grosseltern können helfen, indem sie unterstützen oder immer dreinreden. Viele Eltern wissen heute nicht mehr so genau Bescheid, welche Schwierigkeiten auf sie zukommen. Was ein Baby, Kleinkind, Kind in seiner Entwicklung braucht. Dass beispielsweise ein Neugeborenes anfangs sehr viel schreit, dass ein Kleinkind trotzt und eine Weile immer Nein sagt.

Eltern und Baby im Bett liegend

Eltern erzählen nur von den schönen Momenten mit Kindern und nicht davon, wenn sie sich ständig ärgern.

Georg Staubli Leiter der Notfallstation und der Kinderschutzgruppe des Kinderspitals Zürich

Warum ist uns dieses Wissen abhandengekommen?

Eltern erzählen nur von den schönen Momenten mit Kindern und nicht davon, wenn sie sich ständig ärgern. Niemand getraut sich zu sagen: da hätte ich mein Kind am liebsten an die Wand geklatscht. Vielleicht erzählt das jemand bei einem längeren, vertrauten Gespräch. Aber in der Regel hört man immer: es ist alles wunderschön. Auf Werbeplakaten und in -Spots lächeln glückliche Mamis und Babys, Papis sind häufig aussen vor. Das sorgt für Druck, wenn man selbst Kinderhaben nicht nur als schön wahrnimmt. Bekommt man ein Kind, weiss man nicht, was alles auf einen zukommt. Das ist wohl auch gut so. Man muss aber schnell lernen, dass jedes Kind anders ist und andere Bedürfnisse hat. Dabei bräuchten manche Eltern Unterstützung, um keine Fehler zu machen, die sich vermeiden liessen.

Welche Rolle spielt Corona beim Kindsmissbrauch?

Für viele Eltern wurde mit Corona arbeiten im Home-Office möglich. Das hat für die Familie als Ganzes durchaus Vorteile. Man hat mehr Zeit zuhause verbracht, viele Väter haben mehr übernommen. Manchen Familien ist es besser gegangen, weil beide Elternteile mehr in die Erziehung involviert waren. Wo es aber schon vor Corona heftige Konflikte gab, haben sich diese mit der Pandemie verschärft. Hocken psychisch angeschlagene Eltern oder Kinder ständig aufeinander, führt das zu Eskalationen. Depressionen und Suizidversuche haben bei Jugendlichen in den letzten beiden Jahren massiv zugenommen.

Sie engagieren sich zusammen mit anderen Expertinnen und Experten in der IG Kinderschutz. Was erhoffen Sie sich von dieser Initiative?

Ziel dieser Initiative ist es, anders für Kinderschutz zu sensibilisieren. Früher wurden vor allem die ganz schlimmen Fälle von Kindsmissbrauch öffentlich thematisiert: wenn eine Mutter ihr Kinder tötete oder ein Baby geschüttelt wurde und starb. Natürlich ist es auch wichtig, das zu zeigen. Und natürlich möchte man diese ganz schlimmen Fälle auch verhindern. Aber dabei wird nicht die Mehrheit der Kinderschutzfälle abgebildet, sondern die Spitze des Eisbergs. Nun geht es uns aber darum, aufzuzeigen, dass Kinder allgemein sehr fordernd sind, viel Aufmerksamkeit und viel Zuwendung brauchen. Sie entwickeln sich, ihre Bedürfnisse ändern sich. Ziel unserer Kampagne ist es, früher zu intervenieren. Bevor es zu einer Misshandlung kommt.

Wie wird die Kampagne aussehen?

Wir zeigen keine Bilder von verschlagen oder blutenden Kindern, da viele Eltern sonst denken: das würde ich doch nie tun. Stattdessen zeigen wir schreiende Kinder. Da fühlen sich alle angesprochen. Viele, die am Rande ihrer Ressourcen sind, wissen noch nicht, an wen sie sich wenden können. Wir wollen die Leute in ihrem Alltag abholen und auf die bestehenden Angebote verweisen. Und ihnen signalisieren: Ihr seid nicht allein.

Handydisplay mit Startseite von refeel.ch

Foto: Kampagne #refeel

Kampagne #refeel

Auf der Webseite re-feel.org finden Eltern Koordinaten von Institutionen, die Hilfe anbieten, wie zum Beispiel Sozialzentren oder die Mütter- und Väterberatungen.

Foto/Bühne: Vera Hartmann / 13 Photo

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