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«Nachbarn klagen oft, weil sie sich verletzt fühlen»

Text

Dario Aeberli

Erschienen

12.08.2022

Blick auf eine Nachbarschaft aus der Vogelperspektive

Hohe Hecke, laute Musik, falsch parkiert: Wenn Nachbarn streiten, führen vermeintliche Kleinigkeiten zu Klagen. Ein Friedensrichter zeigt auf, wie er vermittelt.

Markus Diethelm, wieso ziehen Nachbarn schon wegen Kleinigkeiten vor Gericht?

Im Nachbarschaftsstreit gibt es keine Bagatellen. Betroffene fühlen sich wirklich dadurch gestört, dass der andere laut Musik hört oder mit Lautsprecher telefoniert. Am Anfang akzeptieren sie die hohe Hecke, aber irgendwann beginnt diese sie zu stören, und sie verbeissen sich in das Thema. Jedes Mal, wenn sie die Hecke sehen, ärgern sie sich. 

Spüren Sie als Friedensrichter vor Beginn der Verhandlung, ob es gut kommt oder nicht?

Es gibt schon Tendenzen. Vielfach weiss der Beschuldigte gar nicht, dass er mit seinem Verhalten den anderen stört. Das ist das Schönste: Wenn der andere Einsicht zeigt, Rücksicht nimmt und ab 20 Uhr die Musik leiser macht. In der Nachbarschaft müssen die Menschen auch nach dem Urteil noch nebeneinander leben können.

Halten Sie eine Partei zurück, wenn Sie in der Verhandlung keine Lösung gefunden haben? Die müssen ja meist beide in die gleiche Richtung nach Hause.

Nein, aber manchmal schaut sich der eine hier noch ein Bild an der Wand an, damit sie nicht zusammen die Treppe runtermüssen. Es gibt jedoch ein Sprichwort: «Hätten wir nie gestritten, wären wir nie Freunde geworden.» Das sage ich den Nachbarn manchmal, denn oft reden sie bei mir das erste Mal länger miteinander. Nachbarschaft wird immer anonymer.

Portrait Markus Diethelm

Foto: Andreas Reichlin

Markus Diethelm (42)

ist seit zehn Jahren Friedensrichter in den Gemeinden Reichenburg und Benken und Vizepräsident des Verbands der Friedensrichter im Kanton Schwyz.

Belastet es Sie, wenn die zwei Parteien keine Lösung finden?

Ja. Wenn sie trotzdem vor Gericht ziehen, überlege ich mir: Hätte ich das nicht besser machen können? Was hätte ich anders machen sollen?

Haben Sie ein Beispiel?

Ich habe begonnen, bei Nachbarschaftsstreits den Tisch aus dem Raum zu entfernen. Beim Diplomlehrgang zum Friedensrichter lernten wir das in einem «Gspürsch-mi-fühlsch-mi-Kurs» zur Mediation. Aber es funktioniert tatsächlich. Weil sich ohne Tisch niemand hinter Mappen voller Akten verbarrikadieren kann, sind alle etwas offener, verletzlicher. 

Sie wurden 2012 mit erst 32 Jahren zum Friedensrichter in Reichenburg SZ gewählt. Warum wollten Sie dieses Amt übernehmen?

Weil ich schon damals fand: Die Welt braucht mehr Gerechtigkeit. Viele denken, als Einzelperson könne man nicht viel ausrichten, aber ich wollte meinen kleinen Teil dazu beitragen. Helfen, dass wir in der Gemeinde den Frieden bewahren. Gleich nach der Wahl hatte ich etwas Bedenken, weil ich dachte, dass ich als Friedensrichter viel entscheiden muss und am Schluss der «Bölimann» bin. Aber meine Aufgabe besteht mehr darin, Menschen im Gemeindehaus zusammenzubringen und ein Gespräch zu führen, zu vermitteln. Die Lösung müssen dann die Parteien selbst miteinander finden.

Am Schluss sollten beide ein bisschen gewonnen und ein bisschen verloren haben.

Markus Diethelm

Wie bringen Sie sie so weit? Offensichtlich konnten sich die Parteien ja zuvor privat nicht einig werden.

Der offizielle Rahmen hilft. Sie erhalten per eingeschriebenen Brief eine Vorladung zu einem Gespräch, das von einem Friedensrichter geführt wird, und wissen: Jetzt gilt es ernst. Das ist die erste Instanz, das erste Gericht. In der Regel streiten die Menschen nicht gern, es belastet sie. Ich versuche Verständnis zu schaffen, wie sich die andere Person fühlt. Ich sage immer: Am Schluss sollten beide ein bisschen gewonnen und ein bisschen verloren haben.

Und wie kommen Sie an diesen Punkt?

Etwa mit Rollenspielen: Der Kläger wird zum Angeklagten und umgekehrt. Sie sollen dann überlegen, ob es wirklich so schlimm ist, dass der Baum so hoch ist und Blätter am Boden liegen. Oder ist es vielleicht gar schön, dass der Baum Schatten spendet? Dann machen wir eine kleine Pause, damit sie Zeit zum Nachdenken haben. Und meistens weichen sich die Fronten danach auf.

Sie setzen Pausen gezielt ein?

Ja, die Verhandlungen sind intensiv. Beide überlegen genau, was sie sagen wollen. Pausen tun gut. Die Verhandlung soll sich aber nicht ewig hinziehen. In der Regel dauert sie eineinhalb Stunden. Eine Stunde lang kommen die Fakten auf den Tisch, und dann formulieren wir eine Lösung. Meine schnellste Verhandlung dauerte 30 Minuten. Es ging um einen Busch, der die Sicht auf die Einfahrt versperrte. Zwischen der Vorladung und dem Gespräch vergeht in der Regel ein Monat. In dieser Zeit hatten sich die Nachbarn geeinigt und wollten das von mir nur noch schriftlich festgehalten haben. Manchmal dauert es aber deutlich länger.

Machen Sie hin und wieder einen Witz, um Gespräche aufzulockern?

Auf jeden Fall. Wir haben bei Verhandlungen schon herzhaft gelacht. Es ging um Vögel, die beim einen Nachbarn genistet und auf die Terrasse des anderen gekackt hatten. In einer guten Stimmung ist man eher bereit, Kompromisse einzugehen. Die beiden verstanden sich eigentlich gut, tranken hin und wieder ein Glas Wein zusammen – aber irgendwann begann der Kot den einen doch zu stören. Er machte Fotos und zeigte seinen Nachbarn an.

Obwohl sie sich eigentlich gut verstanden haben?

Ja. Manchmal überlegen sie, wie sie den Nachbarn auf ein Thema ansprechen, ohne ihn zu verletzen. Und dann kriegt es der andere doch in den falschen Hals, vergreift sich im Ton. Dann braucht es eine neutrale Stelle wie den Friedensrichter.

Weshalb?

Ich kann eher herausspüren, ob es wirklich nur um eine Hecke geht oder mehr dahintersteckt. Oft wird als Vorwand wegen einer Bagatelle geklagt, obwohl das Problem woanders liegt.

Wie spüren Sie dann die eigentlichen Probleme auf?

Ich hatte schon Fälle, bei denen einer 60 000 Franken Schadenersatz verlangte, weil der andere sein Auto oft auf seinem Privatparkplatz abgestellt hatte. Aber ich spürte, das war gar nicht der Grund für den Streit: Der Nachbar hatte den Kläger an der Fasnacht persönlich beleidigt, dieser hatte das auf jeden Fall so empfunden. Dem Angeklagten war gar nicht bewusst, dass das so angekommen war, und entschuldigte sich. Damit war die Sache erledigt. Nachbarn klagen oft, weil sie sich verletzt oder zu wenig respektiert fühlen.

Oft wird als Vorwand wegen einer Bagatelle geklagt.

Markus Diethelm

Wie vermeide ich, dass ich zum Friedensrichter muss?

Grundsätzlich müssen sehr wenige vor den Friedensrichter. Bei mir kommen die meisten zum ersten Mal mit der Justiz in Kontakt. Es gibt ein paar Wenige, die gerne streiten und mehrfach bei mir sind. Im Kanton Schwyz haben wir jährlich etwa 850 Fälle, und 85 Prozent davon können wir lösen. Das entlastet die Gerichte und spart Steuergelder.

Wie gestalte ich eine Verhandlung als Angeklagter erfolgreich?

Seien Sie ehrlich und bereit, etwas nachzugeben. Hier können Sie die Lösung mitbestimmen, vor Gericht entscheidet eine Richterin oder ein Richter darüber. Wenn Sie sagen, Sie schneiden Ihre Hecke an einer Stelle zurück und lassen sie an der anderen stehen, damit man Ihnen nicht direkt ins Schlafzimmer sieht, kann das für beide stimmen.

Was ist das Dümmste, was ich bei einer Schlichtungsverhandlung machen kann?

Gar nicht auftauchen.

Das passiert?

Ja, und dann gehts automatisch weiter ans Gericht. Oder ich entscheide bei kleineren Klagesummen bis zu 2000 Franken selbst. Einen Vergleich kann ich auch in Millionenhöhe abschliessen, wenn alle einverstanden sind.

Es gibt ein paar Wenige, die gerne streiten und mehrfach bei mir sind.

Markus Diethelm

Und wenn jemand nicht erscheint, entscheiden Sie im Sinn des Anwesenden?

Ja, die andere Partei hat damit ihre Chance vergeben, sich zu rechtfertigen.

Ist nicht aufzutauchen ein Schuldeingeständnis?

Nicht unbedingt. Vielleicht sind sie so verängstigt, dass sie nicht kommen. Wenn ich das spüre, rufe ich an und sage, dass die Vorladung kein Weltuntergang ist. Meistens holen die den eingeschriebenen Brief mit der Vorladung zum Gespräch gar nicht ab und hoffen, dass nichts passiert. Oder sie melden sich wegen Corona ab. Da muss ich spüren, ob das nicht nur ein Vorwand ist.

Und woher haben Sie dieses Gespür?

Aus meiner Lebenserfahrung. Ich habe mit 21 geheiratet, bin mit 22 Vater geworden, war mit 28 der jüngste Gemeinderat von Reichenburg, mit 30 Geschäftsführer einer Schaltanlagenfirma. Ich habe mir vorgenommen, immer alle Chancen zu packen. Im Militär absolvierte ich die Offiziersschule. Dort musste ich extrem unterschiedliche Charaktere führen und schauen, dass sie respektvoll miteinander umgehen. Wenn einer brüllte oder fluchte, musste ich ihn zurechtweisen.

Passiert das bei Verfahren denn auch?

Ja, ich hatte schon Brüder, die nebeneinander wohnten und sich Dinge an den Kopf warfen, wie: «Schau mal in den Spiegel, wie hässlich du bist.» Die Familienstreitereien sind übel. Dann muss ich in der Verhandlung auch lauter werden, um die Diskussion wieder an mich zu reissen.

Foto/Bühne: Getty Images

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