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Mokhtar ist angekommen

Text

Jörg Marquardt

Erschienen

17.11.2023

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Mit 13 Jahren flieht Mokhtar Etemadi ganz allein von Afghanistan nach Europa – und landet in Davos. Sein erfolgreiches Ankommen in der Schweiz verdankt er auch einem lokalen Verein.

Drinnen geht es schon hoch her, als Mokhtar Etemadi das «Café international» betritt. Aus einem Lautsprecher schallt orientalische Popmusik; juchzende Kleinkinder flitzen durch die Räume mit den Graffiti-Wänden – immer den Eltern davon; Jugendliche feuern sich am Billardtisch oder Töggelikasten gegenseitig an. Es herrscht ein fröhliches Stimmengewirr aus Kurdisch, Dari, Deutsch und Mundart.

«Hoi zäme», ruft Mokhtar in die Runde. Fast jeden Montag verbringt der 21-Jährige Afghane mit den verschmitzten Augen seinen Feierabend im Café nahe dem Bahnhof Davos Dorf. An diesen Tagen gehören die Räumlichkeiten des lokalen Jugendtreffs vor allem den Geflüchteten, die in der Region untergebracht sind.

Vor sieben Jahren wurde das Café von der Interessengemeinschaft für ein offenes Davos als Ort der Begegnung aus der Taufe gehoben. Hier trifft Mokhtar auf Menschen, die einen Moment Leichtigkeit in ihrem oft schwierigen Alltag suchen. Familien mit Kindern, aber auch Jugendliche, die allein in die Schweiz gekommen sind, ohne Eltern oder andere Angehörige. UMA werden sie im Behördenjargon genannt: unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Mokhtar war selbst einer.

Ich sprach weder Deutsch noch Englisch, wusste so gut wie nichts von der Schweiz und war schockiert, wie abgelegen der Ort ist.

Mokhtar Etemadi

Anfang 2016 ist er vor der kriegerischen Gewalt in seiner afghanischen Heimatprovinz geflüchtet. Da war er knapp 13 Jahre alt. Zuerst trat er die gefahrvolle Reise zusammen mit seinem nur wenig älteren Bruder Ebrahim an. Als ihre Flucht bereits an der iranischen Grenze endete, versuchten sie es erneut. Dabei wurden sie getrennt. Nach einer Odyssee, davon viele Monate in einem Flüchtlingslager in Griechenland, wurde Mokhtar in Chiasso von der Grenzwacht aufgegriffen. Er stellte einen Asylantrag – und fand sich einige Monate später in einem Zug wieder, der ihn nach Davos brachte, seinem zugewiesenen Wohnort. Das war im November 2016.

Wenn Mokhtar von der Flucht erzählt, wirkt er viel erwachsener und abgeklärter als viele Schweizer Altersgenossen. Angesprochen auf seinen ersten Eindruck von Davos sagt er nur ein Wort: «Kalt.» Er stammt aus der Stadt Masar-e-Scharif im Norden Afghanistans, wo im Winter milde Temperaturen herrschen. Die Ankunft in den Bündner Alpen war für ihn aber auch ein Kulturschock. «Ich sprach weder Deutsch noch Englisch, wusste so gut wie nichts von der Schweiz und war schockiert, wie abgelegen der Ort ist.»

Mokhtar steht auf und geht zur Küchenzeile des Cafés. Dort hat sich eine kleine Menschentraube gebildet, die afghanische Teigtaschen zubereitet. Er hilft mit, die «Bolani» in der Pfanne in Fett zu backen. Zwischendurch scherzt er mit Johanna Veit Gröbner, der Projektleiterin des Café international. Warmherzig und zupackend kümmert sie sich um die Jugendlichen und animiert sie zum Mithelfen in der Küche.

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Mokhtar mit Johanna Veit Gröbner (Foto: Nik Hunger)

«Mokhtar war ein wandelndes Fragezeichen», erinnert sie sich. «Er hat alles mit Neugier angepackt und wollte immer vorwärts kommen.» Und dabei hat ihn die IG offenes Davos unterstützt. Parallel zum Schulunterricht im Flüchtlingsheim verbrachte er viel Zeit in der Beratungsstelle des Vereins. Dort machten ihn die freiwilligen Mitarbeitenden mit dem Schweizer Bildungssystem vertraut und halfen ihm später, eine Wohnung zu finden. Zudem profitierte er vom reichen Freizeitangebot des Vereins, darunter ein Snowboard-Kurs. «Seither kann er auch dem kalten Winter etwas Gutes abgewinnen», sagt Veit Groebner und lacht.

Heute spricht Mokhtar fliessend Deutsch und Mundart. Letztes Jahr hat er die Berufslehre zum Montage-Elektriker abgeschlossen und macht derzeit eine Weiterbildung zum Elektroinstallateur. Aus Dankbarkeit für die Unterstützung beim Ankommen in der Schweiz engagiert er sich selbst in der IG. «Viele Geflüchtete kommen zu mir, weil sie Fragen zu einer Rechnung haben oder weil sie einen Rat bei der Jobsuche benötigen.»

Im Café bricht plötzlich Jubel aus. Eine Gruppe junger Afghanen verfolgt lautstark die Weltmeisterschaft im Cricket auf ihren Handys. «Heute spielt Afghanistan gegen Pakistan», sagt Mokhtar. Für das Schlagballspiel hat er selbst wenig übrig. In seiner Heimatregion ist Fussball der absolute Volkssport. Auch deshalb hat er für die IG offenes Davos die Leitung eines Fussballteams übernommen. Die Cricket-Fans unter den Geflüchteten haben ebenfalls eine eigene Mannschaft, die von der IG unterstützt wird.

«Mokhtar ist ein grosses Vorbild für andere Geflüchtete», sagt Projektleiterin Johanna Veit Gröbner. Erfolgsgeschichten wie diese bestärken sie in ihrem Engagement. Im nächsten Jahr wird die IG offenes Davos im Rahmen des Migros-Förderprogramms «ici. gemeinsam hier» finanziell unterstützt. «Damit können wir weiterhin dafür sorgen, dass Geflüchtete in Davos leichter Fuss fassen.»

Es ist spät geworden. Inzwischen sind nicht mehr viele Leute im Café. Mokhtar will langsam aufbrechen. Zuhause wartet sein Bruder Ebrahim. Er ist ein halbes Jahr nach ihm in Davos angekommen. Nach erfolgreicher Lehre macht der 22-Jährige derzeit eine Weiterbildung neben seiner Arbeit in einem Sanitärbetrieb.

Die Brüder sind dankbar für die Gemeinschaft und den Halt, den sie durch die IG offenes Davos gefunden haben – vor allem jetzt, wo die Taliban wieder Afghanistan kontrollieren und sich die Menschenrechtslage in ihrer Heimat weiter verschlechtert hat. «Der Verein hat immer offene Türen und Ohren für Menschen wie uns», sagt Mokhtar. «Das tut mega gut.»

Foto: Marco Zanoni

Angela Zumbrunn, Programmleiterin von «ici. gemeinsam hier» und Projektleiterin Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund (Foto: Marco Zanoni)

«Wichtiger Beitrag zur Integration»

«ici. gemeinsam hier» – so heisst das Förderprogramm von Migros-Engagement. Neu fliessen knapp 730’000 Franken in 83 Integrationsprojekte in der ganzen Schweiz. Programmleiterin Angela Zumbrunn erklärt, wie das Programm funktioniert.

Wen unterstützen Sie mit «ici. gemeinsam hier»?

Wir unterstützen Vereine und Projekte, die Menschen aus verschiedenen Kulturen zusammenbringen. Eines dieser Projekte ist neu die Interessengemeinschaft offenes Davos. Dieser Verein ermöglicht Geflüchteten, am sozialen, kulturellen und später auch am wirtschaftlichen Leben teilzunehmen. Damit leistet er einen wichtigen Beitrag zur Integration und stärkt den Zusammenhalt in unserem Land.

Nach welchen Kriterien werden Projekte ausgewählt?

Die Aktivitäten sollten hauptsächlich auf freiwilligem Engagement beruhen. Zudem erwarten wir, dass Menschen mit Migrationserfahrung aktiv einbezogen werden und dass die Projektteams divers aufgestellt sind. Eine offene, nicht politisch oder religiös motivierte Ausrichtung des Vereins ist eine Grundvoraussetzung. Zudem fördern wir nur, wenn auch andere Finanzierungspartner angefragt wurden.

Was war Ihr schönstes ici-Erlebnis bisher?

Ich denke noch oft an eine junge Frau aus dem Nahen Osten, deren Projekt wir im Rahmen von ici gefördert haben. Weil sie Mühe hatte, einen Job zu finden, war sie jahrelang als Freiwillige für diverse Projekte in der Schweiz tätig. Parallel dazu hatte sie eine Ausbildung im Migrationsbereich gemacht. Von ihrem Engagement und Wissen waren wir so beeindruckt, dass wir ihr eine Stelle als Coach bei «ici. gemeinsam hier» anboten. Seither kümmert sie sich um die fachliche Begleitung von anderen Projekten.

Foto/Stage: Nik Hunger

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