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Nur Ja heisst Ja

Text

Kistina Reiss

Erschienen

01.11.2021

Illustration «Nur Ja heisst Ja»

Muss man jemanden küssen, den man nicht mag? Was tun bei unerwünschtem Körperkontakt? Kinder und Jugendliche sind oft unsicher, was in Ordnung ist und was übergriffig. Wir nehmen ein paar konkrete Beispiele unter die Lupe.

22 Prozent der Mädchen und 8 Prozent der Jungen ­erleben bis zur neunten Klasse mindestens einen sexuellen Übergriff mit Körperkontakt. So das Fazit der Schweizer Optimus-Studie von 2012 mit über 6000 befragten Jugendlichen. In ca. 40 Pro­zent der Fälle sind Gleichaltrige beteiligt. ­Neuere Erhebungen gibt es nicht. Die Zahl der ge­meldeten Fälle steigt zwar, was laut ­Experten aber daran liegen könnte, dass sich Betroffene ­vermehrt trauen, sie zu melden.

Übergriff? Drei Fragen stellen

Doch wann liegt ein Übergriff vor, und was ist nur Ergebnis von ungeschicktem Verhalten? Die Palette der Möglichkeiten ist breit: Hinterherpfeifen, ­un­gebetener Körperkontakt,  Komplimente, heimliche Blicke und Gefühle, die man mitteilt.

Doch drei Fragen helfen beim Einschätzen: Haben Betroffene die Wahl, in dieser Situation zu sein? Haben sie eine Stimme, um ihre Interessen deutlich zu machen? Gibts einen einfachen Ausweg? Lassen sich alle Fragen mit einem «Ja» beantworten, liegt eine einvernehmliche ­Situation vor. Bei drei «Nein» handelt es sich hingegen um ­einen Übergriff. Die Experten sprechen von der sogenannten Choice-Voice-Exit-Regel (Wahl-Stimme-Ausweg-Regel).

Illustration «Nur Ja heisst Ja», Hintern anfassen

Beispiel 1

Die Mädchen spielen Wahrheit oder Plicht. Als Ronja an der Reihe ist, erhält sie die Aufgabe, Sebastian an den Po zu fassen. Ronja geht ohne lang zu überlegen ins Nebenzimmer und greift Sebastian an den Po. 

Einschätzung: Es handelt sich um einen Übergriff. Sebastian wird überrumpelt und hat weder Wahl noch Stimme oder einen Ausweg.

Beispiel 2

Lukas und Francesco treffen sich auf einer Feier, sie reden ­miteinander. Ihre Freunde rufen immer wieder: «Küsst euch doch!» Lukas nervt es, er will nicht so blossgestellt werden. Francesco findet, ­Lukas solle sich nicht so anstellen und beugt sich zu ihm. 

Einschätzung: Ein übergriffiges Verhalten: Lukas hat klar signalisiert, dass er nicht will, seine Stimme wird jedoch nicht gehört. Wahl oder Ausweg liegen ebenfalls nicht vor, weil auch noch Gruppendruck hinzukommt.

Illustration «Nur Ja heisst Ja», Umarmung

Beispiel 3

Ümit trifft Emine auf einer Party. Nach kurzem Gespräch legt Ümit den Arm um Emine. Diese lächelt, entzieht sich der Umarmung langsam und spricht dann mit einer anderen Person.

Einschätzung: Nicht übergriffig. Emine hat sich mit Stimme (Mimik), Wahl und Ausweg selbst der Situation entzogen.

Tipp: Fühlt man sich mit jemandem unbehaglich und die Antworten auf die drei Fragen fallen ­gemischt aus, ­beendet man die Situation besser oder wandelt sie in eine einvernehmliche um – etwa mit der Nachfrage: «Wollen wir lieber etwas anderes machen?» 

Illustration «Nur Ja heisst Ja», Onkel küssen

Beispiel 4

Romi (7) besucht mit den Eltern ihren Onkel. Ihr Vater sagt: «Gib dem Onkel einen Kuss.» Romi will nicht und versteckt sich hinter dem Vater. Der drängt: «Komm schon, sonst denkt der Onkel, du magst ihn nicht!» Zögernd geht Romi zum Onkel und gibt ihm einen Kuss.

Einschätzung: Die Situation ist übergriffig. Romi hatte weder Wahl noch Stimme oder Ausweg.

Das Projekt Ja, Nein, Vielleicht dient der Prävention sexueller Übergriffe ­unter Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren. Im Fokus ­stehen Geschlechter­rollenbilder und das ­Einverständnis. Bis Mitte 2022 wird der Workshop kostenlos ­angeboten. Das ­Projekt wird vom Migros-­Kultur­prozent finanziell unterstützt. Infos auf janeinvielleicht.ch

Das sollten Jugendliche wissen

Von einem sexuellen Übergriff spricht man, wenn dir jemand gegen deinen Willen anzügliche Witze erzählt oder Pornobilder zeigt. Sexuelle Gewalt ist Körperkontakt gegen deinen Willen.

  • Weitere Infos und Tipps, wie man sich schützen kann: feel-ok.ch (Gesundheitsplattform für Jugendliche)
  • Trau deinem Gefühl: Wenn du eine Situation nicht in Ordnung findest, ­solltest du reagieren.
  • Lass dich nicht zwingen: Auch wenn du mal zu etwas Ja gesagt hast, darfst du später trotzdem noch Nein sagen.
  • Wenn du sexuelle Gewalt beobachtest: Schau nicht weg. Bilde dir eine Meinung. Unterstütze die betroffene Person, bring dich aber nicht in Gefahr, sondern hole besser Hilfe.
  • Hast du sexuelle Übergriffe oder ­sexuelle Gewalt erlebt, musst du ­wissen, dass du nicht schuldig bist.

Das können Eltern tun

Präventiv

  • Im Alltag über Beispiele sprechen: «War das jetzt zu viel für dich? Wie hast du dich in der Situation gefühlt?»
  • Jugendliche für Grenzen sensibilisieren: Hören sie zum Beispiel oft, es sei ein Kompliment, wenn man ihnen hinterher- pfeift, trauen sie ihrer intuitiven Wahr-nehmung nicht mehr («ich fühlte mich nicht wohl dabei»).

Ist etwas vorgefallen

  • Zuhören und mit ruhiger Stimme offene Fragen stellen: Was ist passiert? Wann fand es statt? Wo ist es passiert? Was hat er/sie dann gemacht?
  • Vertrauen stärken: Etwa: «Danke, dass du mir davon erzählst. Ich glaube dir.»
  • Sachlich Rückmeldung geben: Es stärkt Jugendliche, wenn sie hören, dass man sofort eingegriffen hätte, wäre man dabei gewesen.
  • Dem Jugendlichen keinen Vorwurf machen: Es ist für Betroffene schon schwer genug, sich an Erwachsene zu wenden.
  • Ordnung und Sicherheit vermitteln: Sohn oder Tochter informieren, wie die nächsten Schritte aussehen, um sie und andere vor weiteren Übergriffen zu schützen.

Illustrationen: Katrin Wolff

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